Thesenpapier zu „Autonomie und Dialog“ – Hrsg. Jürgen Köhl
1. Jürgen Köhl: „Junge Kinder in der Frühförderung – Entwicklung zwischen Beeinträchtigung und Autonomie“
- Das Kind steht in der interdisziplinären Frühförderung, als autonomer Mensch im Mittelpunkt.
- Die Diagnostik in der Frühförderung bemüht sich diverse „Phänomene“ am Kind zu entdecken und zu objektivieren.
- Jeder lebende Organismus kann sich nur dann individuell verwirklichen, wenn er im kontinuierlichen Austausch mit seiner Umwelt steht.
- Jedes Kind interpretiert Signale seiner Umwelt auf Grund gemachter Erfahrungen und baut somit individuelle Beziehungen auf.
- Da das Kind der Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit ist, und diese Wirklichkeit im ständigen Austausch mit der Außenwelt entsteht, kommt Köhl zu dem Schluss, dass nur eine indirekte Einflussnahme möglich ist.
2. Renate Brandt: „Gedanken zur Entwicklung der subjektiven Wirklichkeit des Säuglings und ihre Bedeutung für die früheste Förderung.“
- Jeder Mensch entwickelt sich zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit nur im kontinuierlichen Austausch mit seiner sozialen, dinglichen und natürlichen Umwelt. Solange der Mensch lebt, ist er erkenntnisfähig, autonom in seiner Selbstgestaltung und dabei zugleich abhängig in seinem sozialen Umfeld.
- Erregbarkeit und Bewegung sind Grundbedingungen dafür, dass jeder Organismus seinen Stoffwechsel in einer für ihn tauglichen Umwelt regulieren kann, dass individuelle biologische und psychische Strukturen mit Außenbedingungen interagieren könne, dass es zur Strukturkoppelung von innen und außen kommt. (Maturana/Varel 1991)
- Wenn ein Säugling lebt, nimmt er Kontakt zur Umwelt auf, auch wenn er in irgendeiner Weise beeinträchtigt oder behindert ist.
- Jeder Säugling hat sein eigenes Tempo, seine Eigenzeit, die (bei Behinderten) für Außenstehende oft schwer einschätzbar ist, weil sie gegen die Erwartungen verläuft.
- Es ist wichtig, das nicht für, sondern mit dem Säugling gehandelt wird, dass er darin unterstützt wir, zunehmend mehr Verantwortung in seiner kleinen Lebenswelt übernehmen zu können.
3. Rainer Hoehne: „Erwartungen an Therapien und die Schwierigkeiten, sich darüber zu verständigen.“
- Der Therapiebegriff ist so weit gefasst, dass heute sehr viele Heilbehandlungen darunter fallen. Eine Abgrenzung ist daher wichtig.
- Die Erwartungen and die Therapie sind oft sehr hoch. Manche Elternteile sind der Meinung, dass das Kind durch eine Therapie geheilt oder repariert wird. Es gilt für die Eltern zu erkenne, dass eine Heilung fast nie erreicht wird.
- Bei den Therapien muss man ähnlich strenge Maßstäbe bei der Verordnung von Medikamenten stellen. Die Dosierung muss stimmen, der Zeitpunkt und die Dauer müssen richtig gewählt sein und dies alles muss immer wieder überprüft werden und womöglich auch geändert werden. Leider ist dies oft bei Behinderteneinrichtungen nicht der Fall.
- Das erste Modell sind Therapieverfahren, die mit festen Techniken und Methoden arbeiten und sich an der Normalität orientieren. Sie sind Defizitorientierte, an Entwicklungsskalen ihren Erfolg oder Fortschritt messende Therapien.
- Therapeuten im zweiten Modell fühlen sich verpflichtet das Kind mit seinen Alltagsbedürfnissen und wünschen, aber auch Alltagsproblemen in den Mittelpunkt zu stellen. Interaktionen sind er Angelpunkt und Techniken dienen lediglich als Handwerkszeug. Die Aufgabe der Therapeutinnen besteht darin, die Selbstheilungs- und Entwicklungskräfte zu stärken oder erst feizulegnen. Dann aber geht es eher um Begleitung, Unterstützung beim Wegräumen von Hindernissen, Schaffen von günstigen Gelegenheiten, Hilfe zur Eigenaktivität und Selbstbestimmung.
4. Hille Viebrock: „Pädagogik und Therapie in der frühen Förderung aus der Sicht einer Bobath-Therapeutin.“
- Ein Kind wird geboren mit einem Repertoire an vorgeburtlichen Erfahrungen, die es kompetent machen, in der nachgeburtlichen Welt zu leben, sich zu organisieren.Es muss sein Repertoire an diese Welt anpassen, variieren und differenzieren, neu organisieren.
- Pädagogen und Therapeuten müssen Experten für die Bewegung, Wahrnehmung und das Lernen eines Kindes im sozialen Kontext sein.
- Variabilität in den einzelnen Entwicklungsbereichen von Kindern müssen berücksichtigt werden und die Therapie entsprechend angepasst werden.
5. Gisela Ritter: „Handlungsorientiertes Arbeiten in der Bobath – Therapie.“
- Handlungsorientiertes Arbeiten setzt gewissermaßen gleichberechtigte Partner voraus, die eigenverantwortlich handeln und ihr Handeln in einem positiven, konstruktiven Sinne aufeinander abstimmen.
- Im handlungstheoretischen Denken sind Haltung und Bewegung untrennbar mit Handeln verbunden.
- Das Ziel im handlungsorientierten Arbeiten lässt sich formulieren als: Ermöglichen der individuell bestmöglichen Handlungsfähigkeit des Kindes über Eigenregulation und Eigenverantwortung.
- Fragestellung für die handlungsorientierte Arbeit: Bei welchen Haltungen und Bewegungen werden sich sensomotorische Erfahrungen am ehesten einprägen?
- Um die Wirksamkeit und den therapeutischen Erfolg zu sichern, sollte immer wieder die Übereinstimmung von Theorie und Praxis überprüft werden.
- Die Therapeutin dominiert nicht, sie liefert sich aber auch nicht aus, sondern ist Partnerin des Kindes und seinen Bezugspersonen.
6. Alfons Welling: „Essen und Trinken im frühen Kindesalter; Therapie und Förderung im Alltag des Kindes.“
- Es ist wichtig, die Kompetenzen des Kindes wahrzunehmen, gerade der selbstständigen Ess- und Trinkfähigkeit wird von Largo hohe Bedeutung beigemessen.“ Der Drang des Kindes zur Autonomie wird in den Rang einer „kritischen Periode“ im zweiten Lebensjahr gehoben.“ Dann hat das Kind „ein großes Bedürfnis“, selbstständig zu werden.“ Kann dieses Bedürfnis nicht befriedigt weden, drohen langwierige Essstörungen.“
- Interaktion zwischen Eltern und Kind ist für den Reifungsprozess (der Nahrungsaufnahme) des Kindes unerlässlich.
- Nur ein Therapieansatz der weiterentwickelt werden kann, ist hilfreich für die individuelle Entwicklung eines Kindes.
- Das Kind ist in seinem Alltag eine “ innerhalb der eigenen Fähigkeiten “ aktiv handelnde Persönlichkeit und besitzt den Drang zur Selbstständigkeit.
- Ess- und Trinkverhalten des Kindes sind mit seinem Alltag aufs engste verbunden.- Therapie muss sich an der konkreten Lebenspraxis des Kindes und seiner Familie orientieren um erfolgreich zu wirken.
7. Heike C. Schnoor: „Die Bedeutung früher Interaktionen zwischen Mutter und Kind als Basis langfristig wirksamer Beziehungsmuster.“
- Die primäre Bezugsperson des Kindes prägt bereits in den ersten Wochen das Beziehungsverhalten des Kindes.- Dieses komplexe System ist sehr störanfällig.
- Diese Dialogstörungen können entweder aus über- oder Unterstimulation des Kindes resultieren oder aus einer mangelhaften Abstimmung zwischen den Dialogpartnern.
- Unterstimulierung / Vernachlässigung: Hospitalismus- oder Deprivationsschädigung
- Überstimulierung: Negativismus-Verhalten (d. Kind zieht sein positives, sich hinwendendes Sozialverhalten zurück.)
- Es entwickeln sich drei verschiedene Bindungsmuster:
(a) sicher gebundene Kinder
(b) vermeidend gebundene Kinder
(c) ambivalent gebundene Kinder
- Die mangelhafte Abstimmung der Dialogpartner, kann von Seiten der Mutter kommen (durch individuelle Probleme) oder von Seiten des Kindes, gut nachvollziehbar ist das am Beispiel von Down-Syndrom-Kindern.
- Hier ist die Entwicklung des Kindes verzögert, es ist auch passiver und langsamer im Interaktionsverhalten, somit können die Mütter die Signale des Kindes schlechter interpretieren.
8. Mauri Fries: „Babys, die sich nicht beruhigen lassen – Auswege für Eltern und Babys in der lösungsorientierten Kurzzeittherapie.“
- Exzessives Schreien, ist das Schreien im ersten Lebensjahr, das länger als drei Std., öfter als drei Tage und dies über mehrere Wochen auftritt.
- Das Schreien ist Ausdruck einer erschwerten postpartalen Anpassung des Säuglings an seine neue Umgebung, welche durch eine mangelnde Ausreifung der Verhaltensregulation entsteht.
- In der Beratung betroffener Eltern findet man verschiedene therapeutische Ansätze: Verhaltenstherapie, Eltern-Säuglings-Psychotherapie, Gesprächspsychotherapie, kommunikative Therapie, usw.
- Fries geht auf das Thema lösungsorientierte Kurztherapie ein. Diese ist der Meinung, dass jedes System über die Kompetenz und Ressourcen verfügt, die es zur Lösung seiner Probleme benötigt.
- Durch verschiedene Fragetechniken (die aus der systemischen Familientherapie stammen) , wie Skalierfragen, Copingfragen, Ausnahmsfragen, Wunderfragen, Zielfragen, zirkuläres Fragen und Videofeedbacks wird versucht, die Kompetenzen und Ressourcen zu finden und dem System zugänglich zu machen.
- Die Beratung wird entweder alleine oder mit einer Studentin als „reflecting team“durchgeführt. Dies hat zum Vorteil, dass beide sich auf unterschiedliche Teile der Kommunikation konzentrieren können und sich dann, noch im Beisein der Klienten, austauschen und die Klienten dann zu ihrem empfinden fragen.
9. Claudine Calvet-Kruppe, Ute Ziegenhain, Bärbel Derksen: „Kinder mit Down-Syndrom: Entwicklungspsychologische Elternberatung.“
- Die Entwicklungsbesonderheiten der Kinder mit Down-Syndrom verlangen andere Umgangsformen von den Eltern und erschweren das Eingehen auf ihre Bedürfnisse
- Bezugspersonen neigen häufig dazu, das Kind überzustimulieren, um eine Reaktion zu erhalten, da soziale Signale wie Lächeln, Augenkontakt usw. verzögert auftreten.
- Wichtige Themen in der Beratung sind: das Lesen der Signale der Kinder, Die emotionale Belastetheit der Eltern und Probleme der Grenzensetzens.
10. Patricia Champion: „Die Begleitung sehr früh geborener Kinder von der Intensivstation durch das erste Lebensjahr.“
- Die Begleitung von früh geborenen Kindern sollte die klinischen / biologischen Aspekte der Frühgeburtlichkeit für das Kind und die Auswirkung von Frühgeburtlichkeit auf die Mutter (u. zwar im physischen, psychosozialen und auch kologisch-kulturellen Perspektiven) beachten.
- Wir kennen bevorzugte Zeiten für die optimale Entwicklung, -blicherweise als „Kritische / Plastische Phasen“ bekannt, die Störung dieser Zeitabläufe, wie bei der Frühgeburt, führt dazu, dass bestimmte neuronale Verbindungen nicht richtig aufgebaut werden.
- Je früher die Geburt umso beeinträchtigter sind die Kinder
- physische Schwierigkeiten, Sensomotorik, Wahrnehmugnsverarbeitung, Emotion und Haltung, Selbstregulation, Stressverarbeitung, Sozialkompetenz, Nahrungsaufnahme, usw.
- Für ein Frühgeborenes beginnt das Leben mit einem Bombardement von Reizen und Erfahrungen, die für das Baby eine gewaltige sensorische überlastung bedeuten.
- Der Umgang mit dem Kind auf der Neugeborenen-Intensiv-Station sollte nach einem „Entwicklungsmodell“ ausgerichtet sein.
- Jede Intervention muss darauf bedacht sein, dem Kind ein „Gerüst“, also strukturierende Hilfen anzubieten.
- Wichtig ist es schließlich, die Rythmen und Aufmerksamkeitszustände der Kinder zu berücksichtigen.
Prof. Dr. P. Tietze-Fritz
29.April 2003
Referentinnen: Janina Köck, Katrin Kirchner, Anne-Karien Schau