Fachhochschule Frankfurt Kurs: Staat
Fachbereich Sozialpädagogik Dozent: Sommerlad
Januar 1991 Referent: Frank Doerr
Thema: Parlamentarische und außerparlamentarische Opposition in ihrer Entwicklung von 1949 bis 1984 unter besonderer Berücksichtigung der Entstehung der Grünen
1. Die 50er Jahre
Bei der Wahl zum 1. Deutschen Bundestag bewarben sich 1949 13 Parteien , von denen dann 10 einzogen [1]. Sie vereinigten 94,1 Prozent der gültig abgegebenen Stimmen, während in den Achtzigern die vier im Bundestag vertretenen Parteien zusammen 99,5 Prozent erreichten.
Einen maßgeblichen Anteil an Sitzen gab es allerdings nur für CDU/CSU, SPD und FDP, die restlichen 8 Parteien erreichten zwischen einem und 17 Sitzen. Die vertretenen Parteien entsprachen der alten Konzeption der Weltanschauungs-, Klassen- oder Interessenpartei.
Im Laufe der fünfziger Jahre gelang es der CDU/CSU die kleinen im Bundestag vertretenen Parteien an sich zu binden bzw. 1953 und 57 die Wähler zum Parteienwechsel zu veranlassen.
Die SPD mit ihrer als Systemopposition zu verstehenden historischen ideologischen Bindung sammelte jene Wähler, denen es in erster Linie um die Opposition gegen die bestehenden Verhältnisse politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art und danach erst um die Ideologie ging. Auf breitere Wählerschichten als ihr klassisches Stammwählerpotential und einige Unzufriedene konnte sie jedoch kaum wirken, was dann auch zur Vorstellung als Volkspartei mit der Verabschiedung des Godesberger Programms 1959 führte.
2. Die 60er Jahre
1966 erreichte die SPD aufgrund Wehners Strategie die Regierungsbeteiligung. Die Bildung der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD führte jedoch zum Fortfall einer ernsthaften parlamentarischen Opposition. Aufgrund ihrer Fraktionsstärke konnte die FDP als Opposition kaum anerkannt werden und war durch ihre langjährige Einbindung in die Regierungsverantwortung für systemoppositionelle Wähler diskreditiert.
Konsequenz waren die Bildung der außerparlamentarischen Opposition (APO) sowie die Gründung einiger neuer, mit relativ radikalen Forderungen kurzfristig erfolgreicher Parteien.
Ende der 60er Jahre gelang der NPD der Einzug in manches Landesparlament, wo sie jedoch auch relativ schnell wieder verschwand. Der DKP gelangen nur lokale Erfolge und die Peking-orientierte KPD, 1970 gegründet, löste sich zehn Jahre später in ihrer schmalen Mitgliedschaft ausgedünnt wieder auf.
Gerade im Wählerpotential der SPD verbargen sich Teile einer Systemopposition, die bereit war, neue Parteien zu unterstützen, wenn die SPD in die Regierungsverantwortung eintrat. Diese so genannte “vagabundierende Opposition” hat in der BRD eine Tradition. Sie stützt immer dann aktiv neue Parteigründungen, wenn die im Bundestag vertretenen Parteien programmatische oder organisatorische Defizite erkennen lassen.
3. Die Folgen der großen Koalition
Nach 1969 konnte die CQU/CSU gegenüber der SPD/FDP-Koalition aufgrund ihrer Fraktionsstärke die Oppositionsrolle glaubhaft ausfüllen. So ging das Anwachsen der CDU-Fraktionen mit dem gleichzeitigen Verschwinden der NPD aus den deutschen Landtagen einher, wobei es voreilig erscheint, diesen NPD-Wählern ausnahmslos programmatisch-nationaldemokratisches Gedankengut zu unterstellen.
Eine weitere Entwicklung nach der großen Koalition war der von der APO ins politische Leben eingebrachte gewachsene. Partizipationsanspruch. Auch wenn die APO an ihrem selbstgestellten Verzicht auf politische Organisation zugrunde ging, bildete sie jedoch die Voraussetzung zur Schaffung und zum Erfolg der Bürgerinitiativen, der gesellschaftlichen Basisorganisationen der politischen grünen und bunten Bewegung:
“Die erste historische Voraussetzung für das Entstehen von Bürgerinitiativen ist darin zu sehen, dass angesichts der Studentenbewegung weite Kreise der Bevölkerung in der Bundesrepublik die Beeinflussbarkeit politischer Entscheidungsprozesse durch konkrete Partizipationsbegehren für gegeben halten.” [2]
4. Folgen der APO / Bürgerinitiativen
Die APO wanderte in den Untergrund ab oder wurde parteipolitisch integriert. Ihre Nachkommen sind die BIs, die man als sinqle purpose movements bezeichnet d.h. Bewegungen, die sich auf die Realisierung eines einzelnen Themenbereichs konzentrieren. Die Stärke dieser Spezialisierung liegt darin, auf dem jeweiligen Gebiet als Sachverständige auftreten zu können, die Schwäche darin, aufgrund der einseitigen Betonung der persönlichen Betroffenheit nicht die Vermutung der Gemeinwohlorientiertheit des Handelns für sich in Anspruch nehmen zu können.
“Bürgerinitiativen stellen … eine bürgerliche Form sachlich, zeitlich und sozial begrenzter kollektiver Selbsthilfeorganisationen zur unmittelbaren, öffentlichen Durchsetzung von Partizipation an Entscheidungsprozessen dar.” [3]
Bis lassen sich unterteilen in aktive, d.h. Initiativen, die durch Selbsthilfe Lücken in der sozialstaatlichen Aufgabenerfüllung zu schließen suchen wie beispielsweise die Kinderladenbewegung sowie in reaktive BIs, die sich aufgrund einer konkreten Planung wie Kraftwerks- und Straßenbau bilden. Letztere sehen sich natürlich einem hohen Zeitdruck ausgesetzt, da fixe Daten Handlungszwänge für den eventuellen Widerstand provozieren. Die Übernahme sozialer Verpflichtungen durch aktive BIs kann öffentlichen Trägern von Sozialleistungen im Einzelfall unangenehm sein, bedeutet aber i.d.R. keinen realen Widerstand gegen deren Vorhaben bzw. keine Infragestellung ihrer Funktion.
Die alternativen Listen, die als politische Folgeorganisationen der BIs und Vorläufer der Grünen zu betrachten sind, waren gerade für Mitarbeiter reaktiver Initiativgruppen attraktiv, während sie umgekehrt sehr stark von den reaktiven Gruppen mit vergleichsweise hohem Aggressionspotential getragen wurden. Auswirkungen hatte diese Tatsache auf die Zusammenarbeit mancher Listen mit bereits bestehenden politischen Gruppierungen mit systemverändernder Zielsetzung innerhalb der sogenannten Bunten Listen. Hierzu gehörten beispielsweise die K-Gruppen der Neuen Linken, die innerhalb der Hamburger Grünen Liste Platz gefunden hatten.
Die Heterogenität der primären Interessenlage der Initiatoren bewirkte den spannungsreichen Gründungsprozess der sich als alternativ verstehenden Partei.
Die “vagabundierende Opposition” greift wechselnde Themen ungeachtet einer Orientierung an dem klassischen Rechts-Links-Kontinuum auf und bildet, unter Berücksichtigung einiger Bedingungen, einen großen Teil des grünen Wählerpotentials.
“Der Anlass des Entstehens der Bewegung ‘grüne Alternative’ waren konkrete Probleme des Umweltschutzes vor Ort. Hier ein verschmutzter Bach, dort eine gefällte Lindenallee. Dann gab es Themen, die nationale Aufmerksamkeit erregten. Es fing an mit dem Kernkraftwerk Wyhl in Südbaden. In Schleswig-Holstein hat Brokdorf eine symbolische Bedeutung gewonnen. Daran schloss sich dann das Raketenthema an. [4]
5. Der Erfolg der Grünen und vermutliche Gründe
Entziehen sich die Grünen dem üblichen Rechts-Links-Schema, so stellte ihr Erfolg bei der Wahl zum X. Deutschen Bundestag am 6. März 1983 die Analytiker vor Probleme:
“Die Parteianteile der Grünen korrelieren nur schwach und im regionalen Vergleich uneinheitlich mit den Faktoren, die traditionell zur Vorhersage der Anteile für die etablierten Parteien Verwendung finden. Die ‘alten’ politischen Hauptspannungslinien, die in der Vergangenheit für die Entwicklung des deutschen Parteiensystems zentral waren, nämlich Konfession und Klassenlage, tragen in ihrer traditionellen Definition nur sehr wenig zur Erklärung der grünen Wahlergebnisse bei.” [5]
Verständlich, denn der Erfolg der Grünen ist auf ein zu heterogenes Bündel von politischen, sozialpsychologischen, soziologischen, ökonomischen und historischen Erklärungsfaktoren zurückzuführen.
Eine Rolle spielten wohl:
- die Existenz eines konstanten Protestwählerpotentials
- die Neigung, politische Themen mit radikalem Idealismus in die Parteienlandschaft einzubringen
- das besondere Interesse von und die Zuordnung besonderer politischer Kompetenz zu Bevölkerungsgruppen mit hohem Bildungsniveau, möglichst entfernt vom Produktionsprozess, vorwiegend aus Lehrberufen
- allgemeine marktwirtschaftsfeindliche Attitüden vorwiegend junger Bevölkerungsgruppen, die in der wirtschaftlichen Krisensituation mit ihren nach dem zweiten Weltkrieg unbekannten Arbeitslosenzahlen aktiviert wurden
- der tief greifende Wertewandel in der bundesdeutschen Gesellschaft, ausgelöst z.B. durch das Schockerlebnis, das intellektuell der Club of Rome mit seiner Studie über die Grenzen des Wachstums und das, als realpolitische Bestätigung, die Energiekrise des Winters 1973/74 darstellte
- die Enttäuschung der Aktivisten der Studentenbewegung, die sich nach Bildung der SPD/FDP-Koalition im Jahre 1969 in der Hoffnung auf radikale soziale und politische Veränderungen in das bestehende Parteiensystem integrieren ließen und die feststellen mussten, dass gewandelte Koalitionsbeziehungen innerhalb des bestehenden Parteiensystems zwar einen Wandel im Stil und im Inhalt der Politik, doch trotz der verbreiteten charismatischen Aufbruchstimmung der ersten Jahre, als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt meinte, “wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an” [6], keine Veränderung der Gesellschaftsordnung bedeutete
- und schließlich die Förderung der Alternativbewegung durch Defizite des modernen Parteienstaates, die den Bürger in nur vordergründig unmerklicher Weise tangieren, die jedoch kumuliert zur viel diskutierten Staats- oder Parteiverdrossenheit führten.
Quellen:
[1] Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für die BRD – 1952 – Stuttgart/Köln 1952 S. 82 f.
[2] Jürgen Dittberner: Bürgerinitiativen als partielles Partizipationsbegehren, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 2, Juni 1973, Seite 194f
[3] Forschungsgruppe der FU Berlin, im Hessische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), zum nachdenken, Heft 51, Oktober 1973, Seite 37
[4] Werner Kaltefleiter: Wohin steuert die deutsche Politik?, in: Der Handelsvertreter und Handelsmakler, Heft 7/1984
[5] Wilhelm P. Bürtlin, Die Wähler der Grünen im Zyklus neuer Werte und politischer Deprivation. Mannheimer Dissertation 1983, S. 16
[6] Willy Brandt, Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969
[7] Grundlage aller anderen Informationen: Emil-Peter Müller, Die Grünen und das Parteiensystem, Köln, 1984